In der Schweriner Volkszeitung vom 6. Februar 2019 erschien dieser Artikel: „Die Welt in absoluter Stille“
Gehörloser Uwe Spieß wünscht sich mehr Untertitel sowie geschulte Kommunikationshelfer
von Thorsten Meier
06. Februar 2019, 12:00 Uhr
Schlecht sehen, schlecht gehen oder schlecht hören – Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es viele. Wer eine Behinderung hat, ist häufig im Alltagsleben eingeschränkt. Welche Hindernisse und Erfahrungen es gibt, aber auch welche Teilhabemöglichkeiten in Schwerin Menschen mit Behinderung haben, das ist diese Woche Thema. Heute: Gehörlos in Schwerin.
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Masern raubten ihm das Gehör
Ein Leben ohne Töne, ohne Stimmen, ohne Geräusche: Für die meisten von uns unvorstellbar, für den Schweriner Uwe Spieß ist es Alltag. Und das seit 56 Jahren. Als Kind bekam er mit einem Jahr die Masern. Sie raubten ihm das Gehör. „Ich kann von den Lippen ablesen, beherrsche die Gebärdensprache und kann mich auch mit dem Körper ausdrücken“, lässt der gebürtige Wismaraner über Gebärdendolmetscher Manfred Marquardt übersetzen. Der arbeitet seit 19 Jahren für gehandicapte Menschen wie Uwe Spieß, der auch Vorsitzender des Gehörlosenregionalvereins Schwerin ist. Der wurde 1995 gegründet und hat heute 25 Mitstreiter, überwiegend Schweriner.
„Der Gang zu Banken, Versicherungen und Behörden ist für mich jedes Mal eine Katastrophe. Weil die Kommunikation nur sehr schlecht oder gar nicht funktioniert. Wenn es Probleme gibt, versuche ich zu schreiben, aber das sorgt oft für noch mehr Missverständnisse“, erzählt der 57-Jährige mit seinem Finger-Alphabet. Werde er von der Polizei angehalten, gäbe es immer Ärger.
Gebärdensprache müssen sie sich selbst beibringen
„Das hängt damit zusammen, dass Gehörlose anders denken. Sie müssen Deutsch wie eine Fremdsprache lernen. Beim sinnerfassenden Lesen brauchen sie Unterstützung. Gebärdensprache müssen sie sich selber beibringen, weil sie offiziell nicht an Schulen gelehrt wird“, erklärt Elke Prehn.
Für den Elternverband hörgeschädigter Kinder in Mecklenburg-Vorpommern unterhält sie in der Perleberger Straße 22 eine ambulante Beratungsstelle mit regelmäßigen Sprechtagen in Rostock und Güstrow. Fünf Selbsthilfegruppen in Stralsund, Rostock, Gadebusch, Schwerin und Ludwigslust unterstützt sie mit ihrer Arbeit. In mancher Woche spult sie locker 1000 Kilometer ab, ist dann 50 bis 60 Stunden auf Achse. Landesweit bietet sie auch eine mobile Beratung an. Als Einzelkämpferin. „Ich bin selbst Mutter einer mittlerweile 35 Jahre alten gehörlosen Tochter, die mit dem Usher-Syndrom auf die Welt gekommen ist. Ich kenne alle Sorgen und Probleme aus eigenem Erleben“, erzählt die 57-Jährige. „Was als erstes auf der Strecke bleibt, ist jegliche Spontanität. Alles muss organisiert werden, einen Gebärdendolmetscher kann man nicht einfach mal so buchen.“
Im ganzen Land gebe es drei Hauptamtliche, sechs bis sieben Honorarkräfte sowie vier Freiberufler. „Wir holen uns mitunter aus anderen Bundesländern Hilfe, wenn alle ausgebucht sind. Das kostet jedes Mal viel Geld“, sagt Elke Prehn, die momentan 268 Beratungssuchende in ihrer Kartei hat. Das sind Gehörlose, Schwerhörige, Spätertaubte, Eltern, Vertreter von Ämtern, Einrichtungen und Institutionen. Schon seit gut 25 Jahren berät die studierte Ingenieur- und Sozialpädagogin für den Landesverband Eltern hörgeschädigter Kinder. Elke Prehn ist auch Berufsberaterin, klärt über Krankenversicherungs- und Schwerbehindertenrecht auf, hilft bei Antragstellungen und Widersprüchen. „Mit amtlichen Schreiben ist ein Gehörloser oft heillos überfordert.“
Gehörlose leben in absoluter Stille
Apropos helfen: Für Uwe Spieß wäre es hilfreich, wenn es im Kino oder Theater Untitel gäbe. „Wir können Kultur immer nur bedingt erleben“, erklärt der Metallbauer, der sich mit seinen Kollegen im Berufsalltag mit Händen und Füßen verständigt. Gebärdensprache kann dort niemand. „Ich fände es gut, wenn es in Banken, Versicherungen, Krankenhäusern oder bei der Polizei Experten gäbe, die in Gebärdenkompetenz geschult sind. Oder es gar einen Dolmetscher-Notdienst gäbe, samt einheitlicher Bezahlung.“ Dolmetscher im Landtag oder auf Stadtvertretungen seien auch eher selten. Dass die Erfassung des Alltags für Gehörlose trotz Handy, Internet und Videotelefonie immer noch ein gewaltiger Schwerstakt sei, merkt Elke Prehn an. „Sie leben in absoluter Stille und müssen deshalb als Mensch immer online sein.“
– Quelle: https://www.svz.de/22521027 ©2019
Foto: Thorsten Meier